Wie soll ich das alles bloß meinen Kindern erklären?

Besonders eindringliche Veränderungen meiner erwachsenen Empfindungen, Assoziationen und Interpretationen gegenüber jenen Bildnissen, die hierzulande vielerorts zu sehen sind, beweisen in ganz besonderer Weise die tiefgreifende und nachhaltige Prägung, die an jenem unschuldigen Kinde, das ich einmal war, ausgeführt worden war. Aufgerichtet an Wegesrändern, an topographisch exponierten, meist schon wegen ihrer natürlichen Schönheit zum Verweilen einladenden Plätzen, als hätte sie der „liebe Gott“ höchst persönlich dort in die Sonne gestellt und als würden sie schon immer dort stehen: die Flurkreuze und Kruzifixe.

Wie soll ich das alles bloß meinen Kindern erklären?

Ein Essay von Ralph Baumann

An zahllosen Wegkreuzungen und Hofeinfahrten fallen sie dem Vorbeigehenden oder Vorbeifahrenden ins Auge. Die Kreuze. Sie hängen in unzählbaren Massen herum, an Wänden, in Kirchen, Klöstern, Kapellen, in Kathedralen, Domen und Münstern, in Kreuzgängen, Mönchszellen und Gebetsstuben, in Rathäusern, Schulen, Museen, Spitälern, in Kindergärten, in Schlafzimmern, Fluren und Erkern, sie hängen an rostigen Nägeln, goldenen Kettchen, an Rosenkränzen und Rückspiegeln, an Schlüsselbunden, Hundehalsbändern und es gibt sie auch als Fingerring und Ohrschmuck, als Broschen, Manschettenknöpfe und Piercings, auf Königskronen und Reichsäpfeln, in rauen Massen also, sowohl als bedeutungsvolle Insignien der kaiserlichen Macht als auch jene Insignien der Selbstdarstellung. Aufgerichtet in seiner ganzen Schwere goldener Glanz thront es in allen Städten und Dörfern auf den höchsten Turmspitzen der Gotteshäuser, mahnt an zu Gottesfurcht und Gottesdienst, und der Heiligen Schein zeugt so dem einen Menschen Gottes Bund, dem andern andernorts, an Leitplanken und Fahrbahnrändern seinen letzten Willen.

Alle diese Abbilder des Gekreuzigten sollen an den einen und einzigen Märtyrer erinnern, der sich für die Vergebung all unserer Schuld geopfert, ja, klaglos hingegeben hat. Bei diesem Nachdenken und Verstehen, bei dem Nachspüren und Ausdrücken dessen, was gedacht, gesehen, erzählt worden war, beschleicht mich heute ein Gefühl des Argwohns und des Zweifels, wie ich es noch nicht kannte. Ich erinnere mich deutlich daran, dass ich schon als jenes unschuldige Kind misstrauisch war und schon damals nicht recht glauben wollte, was gedacht, gesehen, erzählt worden war.

Das Kreuz bezeugt den Bund, den der einzige und barmherzige Gott mit allem Irdischen geschlossen hat, nicht etwa dessen Sohn, der an es gekreuzigt worden war, nein, aus gutem Grund bezeugt dieser Korpus lediglich den einzigen und geliebten Sohn des einen allmächtigen Gottes: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, so heißt es im katholischen Gebet. Im Koran lese ich nichts von einem Sohn. Dort steht: Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen…

Da nun Gottes Wort diktiert, dass der Mensch kein Abbild von ihm machen solle, müsste es uns schon befremden, in welcher Alltäglichkeit und Häufigkeit das Abbild seines Sohnes überall in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Wir zelebrieren offenbar recht unbewusst einen religiösen Kult angesichts riesiger Abbilder: Abbilder des Mensch gewordenen Sohnes und Abbilder all derjenigen Heiligenfiguren vor ihrem Vater. Ein goldenes Kalb verehren die Gläubigen Christen behaupteter maßen nicht. Aber im Wortbild des Gebets steht es als unser Vater.

Das Vaterunser ist das am weitesten verbreitete Gebet des Christentums und das einzige, das laut Aussage des Neuen Testaments Jesus von Nazareth selbst seine Jünger gelehrt hat. Es wird von Christen aller Kirchen und Konfessionen gebetet, das sind etwa 32% der Weltbevölkerung also 2.304.960.000 Menschen. Auffallend ist, dass die zahlreich vorhandenen Übersetzungen der Urschriften aller monotheistischen Religionen, bei wohlwollender Interpretation in ihren Absichten, in vielem übereinstimmen. Die Gebote des Dekalogs beispielsweise finden wir allesamt auch im Koran wieder, dort werden diese Gebote nicht in einem Zug beschrieben aber genauso erziehend. Dass der Prophet Mohammed (um 570 – 632 n.Ch.) diese Gebote des Dekalogs zwar aufnimmt und sie in seiner Exegese an verschiedenen Stellen des Korans in andere Zusammenhänge stellt und manche Gebote mehrfach nennt, soll mich hier nicht weiter beschäftigen.

Was in drei Teufels Namen hatte ich mit diesem Gott zu tun gehabt?

Was bedeutete diese immer wieder auftauchende Trinität? Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Ich erinnere mich deutlich an die Abschiedsworte, die wir vor dem Verlassen der Kirche aufsagen mussten, also nach dem Heraustreten aus der Gebetsbank, begleitet von einer Beugung des rechten Beins zu einer Art Knicks. Wir bekreuzigten uns dabei und mussten jene Formel aufsagen. Dieses Aufsagen ging in rhythmischer Harmonie mit den Bewegungen des Bekreuzigens einher. Ich hole mir nun diese Erinnerungen nochmals genauer heran, probiere die angemessenen Bewegungen dazu aus und staune nicht schlecht.

Nach über 40 Jahren fließen Bewegung und Wort und Großartigkeit des Sinns und Gefühle der Weihe, als hätte ich sie erst gestern einstudiert, durch meine gesamte Gegenwärtigkeit. Während sich also die Spitzen von Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen meiner rechten Hand zu einer Dreifachen Berührung ertasten und sich Ring- und kleiner Finger, wie von selbst, an den Ballen schmiegen und sich gleichzeitig meine Hand, die drei Finger als Symbol der Trinität voran, zur Berührung der Stirnmitte erhebt, sage ich im Stillen den Satz: „Im Namen des Vaters“, die Betonung und die Berührung der Stirn liegen dabei auf dem Wort „Vater“. Dann führe ich mit den Worten „und des Sohnes“ diese Dreiheit zur Mitte meiner Brust, dann zum Herzen „und des Heiligen“ dann zur Lunge „Geistes“. Sodann falte ich die Hände mit dem abschließenden Wort „Amen.“

Ja, das war es. Und es ist noch immer lebendig in mir. Ich bin erschüttert und ein wenig verstört.
Wieso verknüpfe ich diese magische Dreiheit mit Körper, Geist und Seele, wieso mit Wandelung und Reinheit?
Folgendes erinnere ich sehr genau: Nachdem wir Kinder damals vor dem Altar kniend den Leib Christi in Form einer Hostie (das war nichts anderes gewesen, als eine Oblate, die ich schon als Backunterlage von Weihnachtsplätzchen gekannt hatte, freilich war diese durch eine Zeremonie des Pfarrers zuvor geweiht geworden) von goldenem Teller und aus des Pfarrers Hand mit dessen Worten: „Dies ist der Leib Christi…“ auf unsere weit herausgestreckten Zungen gelegt bekommen hatten, beendeten wir auch diesen Akt mit einem Knicks. Schamvoll tat ich das mit gefalteten Händen, gesenktem Blick und einem demütig geneigten Kopf. Der unvollständigen Beichte wegen, die sozusagen Vorbedingung für die Teilhabe an dieser Zeremonie ist, hatte ich tiefe Schuldgefühle.

Die Beichte dient den katholischen Christen als eine Vorbereitung zur Reinigung der Seele, bzw. zur Bereinigung ihres Gewissens. Nur mit reinem Gewissen ist die Entgegennahme des „Leib Christi“, also die Kommunion erlaubt. Die sündig gewordenen Mitglieder der Glaubensgemeinde offenbaren dem Pfarrer in einem vom Pfarramt festgelegten Termin, der Beichtstunde, ihre Vergehen. Betrachtet man diesen Akt etwas genauer, ist es möglich, den umfassenden Zusammenhang von Schuld und Sühne zu beleuchten.

Die Instanz, der gegenüber moralische oder sittliche Verfehlungen oder auch schwerere Vergehen, etwa solche, die einer zivilen Gerichtsbarkeit vorenthalten bleiben, geäußert werden, ist in dem vorliegenden Fall der Pfarrer. Er übernimmt für den Gläubigen die Funktion einer (wenn man so will: Kommunikations-) Schnittstelle zu Gott, indem er das Gebeichtete entgegennimmt und unmittelbar an die höchste Instanz weiterleitet. Die höchste Instanz ist ein Gott der Barmherzigkeit, für die sich sein fleischgewordener Sohn mit den Worten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ einst geopfert hatte. Der Pfarrer ist seinerseits durch Amt und Würden befähigt bzw. geweiht, die ihm anvertrauten Sünden unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit gegenüber Dritten (Vierten), benannt als Beichtgeheimnis, zu behandeln. Gemäß der Schwere der ihm offenbarten Verfehlungen auferlegt er dem Beichtenden eine Buße – zum Beispiel ein Gebet. Dieser leistet Folge und betet zur Vergebung seiner Schuld. Befreit von seinen Sünden kann nun der Gläubige reinen Gewissens an der heiligen Kommunion teilnehmen. (Bemerkung: Auch im Islam handelt es sich bei der höchsten Instanz um einen Gott der Barmherzigkeit, hier erfolgt die Vergebung während und durch das täglich mehrmals durchgeführte Gebet – bitte recherchieren sie ob das stimmt!)

Wie geht das? Worauf sollte sich eine Tat und eine der Deskription folgende Interpretation dieser Tat als eine mit Schuld behaftete gründen? Unter welchen Konditionen wird diese Interpretation kommuniziert und was wird im Verständnishorizont des Seelsorgers affektiert, so dass ein Resultat, also die Einschätzung der Schwere der Schuld und somit die dieser angemessenen Buse, ermöglicht wird? Ich versuche die Schwierigkeit, die Entstehung der Schuld, also die Schuld an sich, in Verbindung mit ihrer Vergebung durch das Wort Gottes zu bringen, nicht mittels einer Zuflucht in den Glauben zu verstehen, mit der ich auch schon am Ende jeder ernsthaften Auseinandersetzung, namentlich im gewöhnlichen Religiösen angelangt wäre. Wörtlich wäre das in etwa: „ich glaube an die Vergebung meiner Sünden und dann werden diese mir beim Befolgen der vorgeschriebenen Rituale auch vergeben“. Sondern ich versuche diese Schwierigkeit auf eine mich selbst konditionierende begrenzte Anzahl, vielleicht in epikurischem Sinne, ursprünglicher und vorprägender Eindrücke zurückzuführen.
Martin Heidegger trifft in vorstehendem Problem eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer existenzialen Interpretation des Gewissens und einer vulgären Gewissensauslegung und wirft die Auslassung dieses Unterschieds der gesamten philosophischen Tradition als nicht disputiert vor, wobei die Kategorie „vulgäre Gewissensauslegung“ ausdrücklich auf die Beschreibungen meiner persönlichen Erfahrungen zutreffen dürfte.

Alles durcheinander! Alles macht keinen Sinn.
Ein Gott, der keine Tochter zur Welt bringt, sondern einen Sohn schickt, mit einer Rippe, aus der er sodann eine Frau macht, obwohl ich es doch anders wusste. Nämlich die Mutter Erde bringt alles Leben hervor und ich selbst stamme ja auch, so kam es mir jedenfalls vor, von Vater und Mutter ab, hauptsächlich jedoch von meiner Mutter. Ich erwische mich dabei, dass ich ein wenig zusammenzucke angesichts der verdächtig locker hingeschriebenen Sätze und Gedankenfetzen, dass dieses Zeug für die Ohren der Gläubigen oder womöglich gar Gelehrten verdächtig blasphemisch klingen muss, ein übelriechender Hauch schlechten Gewissens taucht auf. Woher? Habe ich mich vergriffen? Wobei?
„Was ist hier los?“, höre ich mir laut zu, wenn auch nur so daher gefragt, und blitzartig und mich selbst überraschend überfallen mich weitere Zusammenhänge, zu ganz anderen Begebenheiten, zu einerseits aktuellen Geschehnissen, die sich derzeit tausende Kilometer südöstlich abspielen und andererseits historische Ereignisse, die sich seinerzeit direkt vor unserer Haustür zugetragen hatten. Ich sehe abgehauene Köpfe von Ungläubigen in den Wüstensand fallen, lese im Koran, wenn ihr jedoch die trefft, die ungläubig sind, dann schlagt sie auf den Nacken, bis ihr sie ganz besiegt habt. Dann schnürt die Fesseln fest! Dann entweder Gnade oder Lösegeld – so lange, bis der Krieg ein Ende nimmt, sehe schwarze Flaggen heroisch im Wüstenwind flattern und schwarz vermummte Krieger ihre Gewehre in starker Faust siegesgewiss im Gegenlicht des heiligen Kriegs in diesen azurblauen Himmel strecken, lese in der Bibel, ich will mich mit dir nicht aufhalten! Er nahm drei Speere in seine Hand und stieß sie Absolom ins Herz, der noch lebend an der Eiche hing. Zehn Krieger, Joabs Waffenträger, kamen herzu und schlugen Absolom vollends tot, sehe den von unschuldigem Wahnsinn befallenen, aus allen Poren seiner Haut Blut schwitzenden Jean-Hugues Anglade in der Verkörperung des Königs Karl IX, sehe jenseits meines Bürofensters den Angebeteten, Blut und Dornenkrone in einem mit Kupferblech bedachten hölzernen Verschlag am Kreuze hängen und Isabelle Adjani, in diesen religiösen Irrsinn hoffnungslos verstrickt, nach dem Gemetzel in jener Bartholomäusnacht durch die blutgetränkten Gassen von Paris waten, anstatt sich der friedenstiftenden Vermählung mit Heinrich von Navarra hingeben zu dürfen, ich sehe Kreuzritter biblische Kampfspiele vor den Mauern Jerichos nachspielen, Sturmtürme bauen und rote Lanzen schwingen vor den Mauern Jerusalems. Lese Judit 14, und wenn ihr merkt, dass sie verzagt sein werden, und die Flucht geben, so dringet getrost auf sie; denn der Herr hat sie unter eure Füße gegeben.

Es ist kein einstürzendes Kartenhaus, denn ich bin mir gerade jetzt besonders bewusst bewusst, was ich da lese und was ich darüber denke. Es ist auch mehr ein Loslassen dieser Gedanken in eine Bilderform, die mir noch fremd ist und sie ist blutrauschend, ein Bildersturm der Furcht einflößenden Geschehnisse, beschrieben im Alten Testament bis heute, so dass ich das Rauschen und Pochen meines eigenen Blutes in meinen Ohren vernehme.
„Was soll das?“, überwältigt schüttele ich den Kopf, schließe meine Augen, atme zwei Mal tief ein, öffne sie wieder, sehe jenseits meines Bürofensters das Kruzifix und notiere: Was für eine riesige Story! Was für ein Märtyrer! Welche kraft- und machtvolle Überlieferung ein paar gut erzählter Geschichten hatte all diese Gottes Zeichen tragenden Bluttaten hervorgebracht? Ein paar einzigartig faszinierende Geschichten, zusammengetragen in ein einziges Buch.

Wieder komme ich ins Grübeln, befinde mich aber von vorn herein in einer irreführend anregenden und gleichsam beruhigenden Stimmung, die einen lebenswichtigen Moment anzukündigen scheint, hervorgerufen durch ein Konglomerat von Abstoßung und Übelkeit, klarem Verstand und Ohnmacht und in mich dringende oder aus mir kommende Bilder aus genau der Welt, in der ich lebe.
Vermutlich voll von Unschuld war ich also als kleines Kind angehalten worden, mich den durchweg gewöhnlichen Regeln und Pflichten einer normalen aber genau dieser katholischen Erziehung zu unterwerfen. Und ich war nicht das einzige Kind und auch nicht vorerst letzte Kind einer einzigen Religion, dem dies widerfuhr. Als empfänglicher, dünnhäutiger Knabe, noch blank aller selbst gefassten Gedanken, aller angenommenen Meinung und allen vermuteten Wissens, hatte ich noch nichts von den Wirkungen (Aus-, Be-, Neben- und Nachwirkungen) jener permanenten Berieselung der Anblicke solcher Devotionalien geahnt und hörte in demselben Augenblick die wehmütig Beschwerde führenden Worte meiner Großmutter, gebeugt über dem Waschbrett im dampfenden Kessel, in ihrer Rechten ein Stück Seife, in ihrer Linken das heiße Tuch, begleitet von einem trüben Blick durch blinde Augengläser und einem tiefen Seufzer, so klar und deutlich als würde sie direkt neben mir stehen: „Das Leben, mein Kind, ist ein Kreuz!“. Und bevor ich hätte fragen können, was das ist, hätte man mir schon eine beliebige, im Besonderen für kindliche Ohren erfundene Geschichte voll von märchenhaften Parabeln und Metaphern erzählt.

Es ist an der Zeit einiges an Klärung aufzubringen. Ich beabsichtige offenbar in meiner Verwirrung, ihnen ein überaus komplexes, dennoch reflektiertes Gedankenspiel vorzuführen, in welchem ich dennoch versucht werde, Ordnung und Klarheit zu finden. Ich lasse mich nicht beirren und bewahre eine gesunde Distanz zu mir selbst. Um mehr eingehendes Verständnis für meine gewöhnliche Persönlichkeit zu entwickeln, will ich trotz erheblichem inneren Widerstand, den ich vorkommen spüre, die Ausführungen einiger Analysen der Biologie und Kommunikationswissenschaft nicht auslassen.

Der chilenische Neurobiologe und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana ist der Ansicht, dass Erkennen, als gerade ablaufender Prozess, und bereits Erkanntes, als Erinnerbares, eng zusammenspielen, nicht wie im traditionellen Erkenntnismodell üblich, in welchem eine definierte Trennung von Subjekt und Objekt sowie Geist und Natur vorgesehen ist. Das wird mir im reflektierten Ineinandergreifen oder Verhaken meiner gerade wahrgenommenen Bilder mit alten und uralten Szenen aus der Geschichte besonders deutlich. Was aber bedeutet hier reflektierend? Es ist ganz offensichtlich, ich werde mir augenblicklich einer Differenz bewusst, die den Kampf zwischen dem, was ich selbstbewusst zu sein glaube, nämlich ein Agnostiker, und dem, was ich an mir zu sein weiß, nämlich ein zutiefst katholisch geprägter Mensch, zu Tage fördert. Dabei gibt es nur dem Scheine nach ein Dilemma, denn durch meine Reflexionen zeigen sich klar und deutlich sowohl Inhalte als auch Selbstbewusstsein als eine Einheit, als Elemente eines wechselhaften Zusammenspiels, die einander bedingen, oder gar einander hervorbringen. Wenn ich diesen Text lese, lese ich ihn im Verlauf der Zeit. Wissenschaftlich wäre zu untersuchen, inwiefern die Inhalte, die ich bearbeite, im Zusammenfall des historischen Geschehens (also des sich Ereignens) mit dem Zeitpunkt des Erinnerns durch die Wiedervereinigung von Sein und Wissen via Reflexion, bereits determiniert sind. Kurz: läuft alles ab, wie ein einziger, vorgelegter, unvermeidbarer Film – ganz wie es mir die Unvermeidlichkeit der geschehenen Geschichte im Zurückblicken zu suggerieren scheint – oder nicht?

Alle drei Schriften habe ich vor mir, Bibel, Tora und Koran, lese Geschichte um Geschichte, vergleiche Passagen, suche Parallelen, finde sie, suche Übereinstimmungen und Unterschiede, finde mehr und mehr. Mit jeder Zeile verändert sich auch meine Beziehung zu den Inhalten, mir wird immer deutlicher, dass die Sprach- und Religionswissenschaftler, die Theologen, Historiker und all die Schriftgelehrte, welchen die Originale, die Urschriften zur Übersetzung vorgelegt worden waren, in ausnahmslos jedem Fall, gemäß ihrer jeweiligen Herkunft, dabei insbesondere ihrer elterlichen Erziehung, deren Standes wegen und weitaus einflussnehmender durch Amt und Würden vorkonditioniert, ja, geradezu abhängig gewesen sein mussten. Demgemäß konnten sie gar nicht anders, als ihre Übersetzungen einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten, bewussten oder unbewussten aber eben auch und im besonderen Sinne und Verständnis der Auftrag gebenden Mächte, der Behörden und Institutionen, je eigenen Interpretation zu unterziehen, beziehungsweise ihren Ernährern nach dem Munde zu schreiben. Suche ich die wahre Geschichte, suche ich die Antwort, zu der es keine Frage gibt?

Durch Zugehörigkeit und ein je geartetes staatliches, gesellschaftliches und kirchliches Umfeld und der genuinen Absicht, Anerkennung und schließlich späten Ruhm zu erlangen, musste sich ja geradezu eine Kultur des Schönens, des Fälschens, des Auslassens, des Abwandelns, des Behauptens, des Abweichens usw. ausbilden. Eine Kultivierung von Nichtwissen und Unwahrheit, die unweigerlich anhaltende Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und Kriege provozierte.

Das alles scheint mir dennoch keinen rechten Sinn zu machen. Ja, das Eifern und Buhlen um Herrschaft und Reichtum zeigt keinen, hingegen das Stehlen und Betteln einen besonders deutlichen Sinn. Dies gilt mir als Ausnahme von der Regel, als Existenzbeweis eines irgendwie natürlichen Überlebensinstinktes, eines von daher allgemeinen, dem Menschen grundsätzlich innewohnenden Zugs, der der Kunst zu leben weit als eine Kunst des Überlebens vorausläuft.

Ich vermute, dass mit dem Gerangel um die wahre Geschichte, dem Streiten um Plausibilität und Glaubwürdigkeit, dem Ringen um Argumente, um Macht und Sieg, jener sinnlose Lauf der Menschheitsgeschichte begonnen hatte und wohl noch eine Weile andauern wird.

Die Kreuze sind jedenfalls noch da. Auch wenn sie aus unseren Schulen weitestgehend verbannt wurden. Das „C“ steht in den Menschen mächtiger Parteien, es steht in ihren Namen, so wie das Geläut der Kirchturmglocken allerorts es mahnt.

Was mir übrig bleibt, ist die Hoffnung auf eine neue Zeit der Aufklärung.

Doch wer klärt was, wie auf? Wer hört zu? Und wann endlich?

Das wirklich Beunruhigende auf meinem Weg der Selbstaufklärung lässt sich in einer, wie ich vermute, sehr alten Frage bündeln:

„Wie soll ich das alles bloß meinen Kindern erklären?“

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