Innere Sicherheit

Maybrit Illner Talkshow am 15.06.2017 im Zweiten Deutschen Fernsehen zum Thema: „Versagen im Fall Amri“

Ein Essay von Ralph Baumann

Ich träume.

Ursprünglich sollte am Anfang dieses Essays die Schilderung jenes Traumes stehen, den ich in der Nacht nach Illners Talk um Amri träumte. Doch nun beginne ich da, wo mein Träumen seinen Anfang hatte:

Am 16. Juli 1967 raste in Oberndorf am Neckar ein schwerer Lastzug ungebremst in eine Gaststätte. Acht Menschen fanden den Tod. Ich war 10 Jahre alt. Die Hinterbliebenen der Opfer leben vermutlich alle noch, sind selbst Opfer und tragen dieses Ereignis noch immer in sich. Ihre Kinder und Kindeskinder bekommen vermutlich diese Geschichte erzählt. Dann gerät sie nach und nach in Vergessenheit. Ich war 10 Jahre alt. Und als die Zeit verging, ich wurde 11, hatte ich bereits dieses Ereignis vergessen.

Bis Amri.

Als die Nachrichten vom Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz die Titelblätter der Tageszeitungen füllten, begriff ich, dass es mit dem Vergessen so eine Sache ist. Fast 50 Jahre sind zwischenzeitlich vergangen.

Die Geschichte des Anis Ben Othman Amri nahm ihren Anfang in Tataouine – einer seit Mitte des letzten Jahrhunderts schnell wachsenden Oasenstadt in Tunesien, die heute als Hochburg radikaler Islamisten gilt – bis sie nach einem kurzen Leben von 22 oder 23 Jahren, das weiß man nicht so genau, in Sesto San Giovanni durch den Schuss eines Polizisten ihr Ende fand. Tataouine, das muss man dazu sagen, hat 165000 Einwohner, 40%Arbeitslose und ist, wie gesagt, sehr schnell gewachsen. Wo früher noch Ziegen- und Kamelherden getränkt wurden florieren heute die Geschäfte mit illegaler Immigration, Zigaretten und Alkohol. Die allermeisten der dort aufwachsenden Kinder und Jugendlichen haben keine Zukunftsperspektive.

In dieser Art der Darlegungen beginnt schon an ihrem Beginn etwas aus dem Ruder zu laufen. Jeder folgende Schuss krepiert bereits im Rohr. Jede folgende Information leitet mich in eine noch tiefer liegende Verlegenheit.

Trotz größter Schuld, die dieser junge Mann auf sich geladen hat, trotz dieses wütenden Rufs nach gnadenloser Vergeltung, den ich in meinem Stillschweigen noch immer zu hören bekomme, angesichts der vielen Menschen, deren Tod der Terrorist nur mit seinem eigenen kleinen Tod verantwortet und damit seine Schuld nur unbefriedigend sühnt, woran sich Auge um Auge in allen Ländern des Nahen Ostens nicht selten Stammeskriege entzünden und trotz meines schmerzlichen Beileids, das ich für die Hinterbliebenen empfinde, versuchen mein Einfühlungsvermögen und mein Verstand, diese große Schuld zu begreifen. Sie lassen mich fragen, was diesen jungen Mann antrieb und schließlich zwang, solche schrecklichen Bluttaten zu begehen, wo er doch ein gläubiger Mensch zu sein vorgab.

Mit diesem Hinterfragen lande ich recht schnell in einem Irrgarten möglicher Interpretationen, die allesamt am Ziel der Wahrheitsfindung vorbei zu schießen scheinen, indem sie andere Wahrheiten ausblenden oder sie negieren: namentlich die eine wahre Wahrheit selbst.

Die eine größte und einzige wahre Wahrheit, in der alle Wahrheiten zu finden sind, wenn einer sie dort nur sucht, in der ich die wahre Entwicklung des Tunesiers in dessen Welt- und Werteverständnis zu verstehen erhoffe. Die andere, die mir die teilhafte Schuld der verantwortlichen Ermittler an einer verpatzten vorzeitigen Inhaftierung vorführt. Und eine weitere, die mir die großen Zusammenhänge der globalen Verantwortung erklärt, die ich mich kurzzuschreiben traue als Globale Verteilungsverantwortung, als Schere zwischen MAC-Book und Ziegenhüter.

Schnell bin ich dabei, die Ursache als Grund zu suchen, fliege mit meinem geistigen Auge über Afghanistan hinweg, sehe klar die dahingeschlachteten Jahrtausende, lasse gar ganze Epochen und ihre Religionen hinter mir, um in einem einzigen stechenden Wort zu stranden: Wer Böses säht wird Böses ernten. Und dies ist kein menschliches Versagen, sondern eine menschliche Funktion! Dieser Funktion können wir gewissenhaft nur unter den Aspekten der Selbstlosigkeit beikommen!

Eigentlich hat mir Peter Scholl-Latours „Der Fluch der bösen Tat“ bereits alles gesagt, was einer mit westlicher Zunge über den Nahen Osten zu sagen vermag, wenn ich nicht in Isaias 14:29 enden wollte, wo es heißt: Freue dich nicht, du ganzes Philisterland, dass die Rute, die dich schlug, zerbrochen ist! Denn aus der Wurzel der Schlange wird ein Basilisk kommen, und ihre Frucht wird ein feuriger fliegender Drache sein.

Und dann – schließlich: die mir vertraute Wahrheit. Meine eigene, die, die mich bestimmt, die, die in mir selbst heranwächst, mit mir spricht und der ich folge, die mich nach meiner Schuld befragt und für Recht und Ordnung sorgt. Die kleinste, allen verschiedene Wahrheit, kann man nicht aufklären, jeder einzelne Mensch lebt in ihr. Es ist diese innerste Wahrheit, der ich nicht ins Auge blicken kann und die mich in meinen Sessel drückt; und aus der heraus mir in den Nächten Bilder träumen. Schön ist, dass ich mich an Manches tags darauf erinnere:

Diesmal war mein Peiniger ein flaches spinnenartiges Ungeziefer, das mich zur Jagd herausforderte. Es erinnerte mich an eine riesige irgendwie mutierte Volvox, haarig bis stachelig, allerdings sandfarben, nicht grün und kugelig wie die Volvox, flach wie eine Flunder und etwa 20 schwarze, blitzschnelle Beinchen ringsherum.  So flitzte die Erscheinung unter der Fußbodenleiste hervor, um gleich wieder unter ihr zu verschwinden. Ich bewaffnete mich mit einem Brettchen und lauerte kniend in der Ecke: ich passte den rechten Augenblick ab, dann senkte ich langsam das Brettchen über das Ziefer. Ich tat es sehr langsam, damit es mir nicht vor Schreck entwischte. Ein schreckliches knirschend knackendes Geräusch verriet mir, dass ich erfolgreich gewesen war. Langsam hob ich das Brettchen vom Boden und vergewisserte mich meines Jagderfolgs. Weidmanns Heil, das Tier war tot. Doch plötzlich, wie von Geisterhand getrieben, löste sich der platt gedrückte Körper auf und verwandelte sich in ein schieres Gewusel tausend kleiner Neugeborener derselben Art. Geschwind huschten einige unter die Leiste, andere suchten in allen möglichen Ritzen und Spalte des Dielenbodens Deckung. Ich versuchte noch das eine oder andere zu erledigen, aber erfolglos. Dann war der Spuk vorbei und ich bin sicher, dass mir dieser Traum eine gelungene Variation jenes Sprichworts einbildete, das mich am Tag zuvor so sehr beschäftigte. Und als die Zeit verging, ich wurde 11, hatte ich bereits dieses Ereignis vergessen. Darüber gemeinsam Stillschweigen üben, das will ich.

Stillschweigen üben. Dazu will ich demütig ermahnen.

Halten wir uns endlich dem Nahen Osten fern. Laden wir ein zum Tee. Üben wir uns in Gastfreundschaft und im Beachten des uns ach so Fremden. Treiben wir friedlich Handel. Tauschen Spiegel gegen Büffelhäute. Wie einst bei den Indianern.

Meine Lese-Tipps:

Der Fluch der bösen Tat, Peter Scholl-Latour, Propyläen/Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014, ISBN 978-3-549-07412-1

der live-ticker des Berliner Kurier zum Fall Amri: http://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/—-live-ticker—–frankreich–ermittlungen-zu-flucht-vom-amri-laufen-25341292

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