Die Demokratie ist am Ende (Teil 1)

Vorbemerkungen

„Warum keinen Menschen mehr interessiert, was in der Politik passiert“

So lautete ein Beitrag im online-FOKUS von Hubert Kleinert, der am 13.12.2014 veröffentlicht wurde. (Dieser Artikel ist unter dem Schlagwort “Eine Volksherrschaft ohne Volk ist hochproblematisch” im Netz auffindbar.)

Ich möchte gleich vorab meinen Leserinnen und Lesern die Lektüre dieser nun schon „alten“ Betrachtungen empfehlen. Aus diesem Artikel zitiere ich für die Eiligen unter Ihnen den letzten Abschnitt und stelle ihn somit in den allgemeinen Kontext des Jahres 2018 – denn die Zahlen, die in diesem Artikel aufgeführt werden, haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend verschlechtert und die darin aufgeführten Themen verschärfen sich zusehends. Zum Erscheinungszeitpunkt des Artikels war die AfD ein Jahr alt und gewann bei der Europawahl 2014 erstmals überregionale Mandate.

Zitat:

Eine Volksherrschaft ohne Volk ist hochproblematisch

Demokratie, so wird es in der Schule gelehrt, bedeutet Volksherrschaft. Das Volk delegiert die Verantwortung für die politischen Entscheidungen an auf Zeit gewählte Repräsentanten. An Abgeordnete, die in Konkurrenz von Personen und Programmen vor die Wähler treten, die mit der Wahl gleichermaßen Personal- wie Sachentscheidung treffen.

Das kann nur funktionieren, wenn die Wähler als Souverän ein gewisses Mindestmaß an Interesse gegenüber dem aufbringen, was die Gewählten so treiben. Wenn sie das nicht mehr tun, weil ihnen das zu langweilig oder anderes wichtiger ist, haben wir ein Problem. Eine Volksherrschaft ohne Volk hat die Demokratie nicht vorgesehen.

Ende des Zitats.

„Die Demokratie ist am Ende! Es lebe die Demokratie!“, das ist für einen überzeugten Demokraten wie mich eine unmögliche Überschrift. Dieser fürchterliche Titel, der in den Ohren der Menschen meiner Art, eben jener Älteren und Alten, die in einem freiheitlich demokratischen Selbstverständnis aufgewachsen und in eine sozialdemokratisch liberale Gesellschaft hineingewachsen sind, wie die Feststellung einer Kapitulation am Ende eines fürchterlichen Krieges oder wie der letzte Kampfesruf einer Revolution klingen muss und der hier nicht zum ersten Mal einen aufrührerischen und zugleich hoffnungsträchtigen Text überschreibt.

Dieser Titel vermag womöglich auch in den Köpfen all jener jüngeren Leute, denen man Narzissmus, Verwöhnung, Bewusstlosigkeit und Mangel an kollektiven Eigenschaften als Wesensattribute zuschreibt, Ängste und schlimme Ahnungen anklingen lassen, so sie ihn denn läsen. Leider, so benenne ich dies auch als ein überzeugter Pazifist, steht dieser Titel in Flammen wie nie zuvor. Und es gibt keinen alternativen Titel, der meinen Versuch trefflicher überschreiben könnte.

Beobachtungen hinsichtlich unserer politischen Traditionen, die von den globalen Umwälzungen unbeirrt wie ein mächtiger, kapitalistischer Trotz in aller Stille und an den Interessenslagen der Bürgerinnen und Bürger vorbei unbeirrt weiter gepflegt werden und populäre Feststellungen, es gäbe einen extrem konservativ und fremdenfeindlich wirkenden reaktionären Separatismus und mit ihm einhergehend ein schnell anwachsender Protektionismus, erscheinen widersprüchlich und ihre vertrauensstiftende Verlässlichkeit, so sich denn eine erhoffen lässt, ist von immer kürzerer Dauer.

Beobachtungen und Feststellungen hinsichtlich der unzähligen, mehr oder weniger etablierten Bewegungen, in denen sich Menschen voll ernstzunehmender Überzeugung für einen politischen Systemwandel verwenden oder sich zum Beispiel gegen eine globale Marktwirtschaft und internationale Handelsabkommen oder gegen die Verschmutzung der Umwelt richten, gleichen einem sachlich und rechtlich undurchschaubaren Dickicht. Newsletter solcher Bewegungen können nur punktuell informieren. Die Tageszeitungen ihre kurzen Anschauungen nur von außen berichten usw. usf.

Beobachtungen und Feststellungen kann ich viele finden und selbst derlei verfassen, doch die Ergebnisse sind nicht zu verstehen und ich vertraue ihnen nicht. Sie verklären. Sie verwirren. Ließe ich mich wirklich ernsthaft auf sie ein und veränderte ihnen konsequent folgend meine Lebensweise, meinen Alltag, wäre ich ziemlich desorientiert, hätte keine Handhaben und wüsste nicht weiter.

Bei allem Unverständnis und aller Verwunderung, die mich betrifft, halte ich es überdies für gänzlich unmöglich, dass die nicht gerade einfache Schilderung meiner ganz persönlichen Assoziationen und Gedanken zu den komplexen Themen, denen ich mich täglich irgendwie konfrontiert sehe, dabei helfen könnte, die Lage zu beruhigen. Denn einer bestimmten Wahrnehmung bin ich mir ziemlich sicher: mit einem „gestörten“ Verhältnis zu einer Regierung, zu einem Land, zu Europa und der gesamten Welt wollen mehr und mehr Menschen „Zustände“ ändern.

Die letzte Nacht der letzten sogenannten Koalitionsverhandlungen – ein für die Öffentlichkeit gehübschter Begriff für Geschacher – ist zu Ende. Dies geschah sage und schreibe16 Wochen nachdem der Chef der FDP am 19. November 2017 das Scheitern der Sondierungsgespräche erklärte, die zu einer Jamaika-Koalition hätten führen sollten.

„Der SPD-Chef Schulz soll Außenminister werden“, so schlug die Süddeutsche Zeitung am 07. Februar 2018 eine Zeile.

„GroKo-Einigung: SPD bekommt Außen-, Finanz- und Arbeitsministerium“ titelte die Bildzeitung.

Am Tage vor der Nacht noch sagte Schulz der WELT: „Habe guten Grund anzunehmen, dass wir heute zu Ende kommen.“ Ein Schulz, der ein paar Tage später in einer Versenkung verschwinden sollte.

Liest man das Einigungspapier, immerhin 170 Seiten, so muss man zugestehen, (versteht man die Inhalte klassisch, nämlich als ernsthaft verhandelte, macht- und verwaltungspolitische Vertragsbestandteile), dass die Ergebnisse überwiegend gemäß den gegenwärtigen Interessenslagen der Bürger vereinbart wurden, so man die Interessenslagen der Bürger auch richtig erfasst hat.

Allein die letzte Seite des Koalitionsvertrags weicht von der engagierten, anregenden Tonart ab, die insgesamt gesehen auf überzeugende Weise echten Willen sowie rhetorisch gelungen insbesondere Mut und Umsetzungskraft zum Ausdruck bringt. Auf dieser den Koalitionsvertrag und die Verhandlungen endgültig abschließenden, letzten Seite 170 ist die Ressortverteilung gelistet. Sie zeigt neben der Machtverteilung vermittels der üblichen Übertragung von Ministerien an die Politiker der koalierenden Parteien auch an, wie die Gewichte bestimmter Argumente die Verhandlungen unterlaufen haben mussten.

Die politische Lage wird offenbar hinter vorgehaltener Hand als viel problematischer gehandelt, als es der Öffentlichkeit mitgeteilt wird. Will man böse formulieren, so wurde die CDU/CSU erpresst. Dabei ging die Bedrohung nicht einmal von der SPD aus, sondern sie wurde nur von ihr genutzt und schlich sich über die Angst vor Neuwahlen in alle politischen Lager ein, die an den Verhandlungen beteiligt waren. Es stand zur Befürchtung, dass die AfD etwaige Neuwahlen gewinnen hätte können und das hätte niemand in dieser Runde gewollt. Horst Seehofer kommentierte die Erpressung verschwiegen. Er habe gar nicht gewusst, dass Menschen so lange schweigen könnten, und er meinte damit die Wartezeit, die es benötigte, um den letzten Entscheid der Ressortverteilung herbeizuführen: das Finanzministerium.
Die Beobachtungen der Politiker und der Medien, die über sie berichteten, die ich während dieser 16 Wochen machte, zeigten mir, dass es sich eben nicht nur um Menschen handelt, die um Macht ringen und um sie feilschen. Ja, mächtige aber doch fehlbare, allzu kämpferische Menschen zwar, aber schließlich doch im Alles oder Nichts zwischen Zukunft und Vergangenheit auf einer letzten Seite 170 zum Schweigen gebracht.

Ich will hier nicht noch einmal wiederholen, was jene Tage in unzähligen Medienbeiträgen berichtet wurde, sondern es den Jahresabschlussfeiern streng geführter Internate gleichtun und lediglich die Namen derer nennen, die „unangenehm“ oder überhaupt nicht aufgefallen sind. Hmm! Nein, darauf verzichte ich auch.

Heute, am 18. April 2018 ist ohnehin all das eingangs Erwähnte längst in der Versenkung der Geschichte verschwunden. Längst hat der politische Alltag seine Normalform wieder erreicht. Die AfD hat es sich in den Oppositionssesseln der rechten Flanke bequem gemacht. Die Linke, die Grünen und die FDP zurückgeblieben auf der Linken. Das Zentrum platziert als Notallianz der CDU/CSU/SPD in der geschwächten Mitte des Systems. „Der politische Betrieb muss weitergehen. „Wir Politikerinnen und Politiker sind schließlich durch die Wählerinnen und Wähler damit beauftragt worden, die Regierungsverantwortung zu übernehmen und dieses Land zu regieren.“ Solche Sätze fallen in solchen Zeiten und sie klingen erbärmlich.

Ein tiefer Graben hat sich da gebildet, zwischen dem Volk und seinen Regierenden. Da ist das Problem mit der Glaubhaftigkeit nur eines von vielen.

Die Aufgaben liegen schließlich vor, nicht hinter uns. Das ist ein räumliches Problem.

Die Erledigung der Aufgaben benötigt Zeit, die wir nicht haben. Das ist ein zeitliches Problem.

Solche Dilemmata lassen das Vertrauen des Volkes weiterhin schwinden. Es ist absehbar geworden, dass in Bälde keines mehr vorhanden sein wird.

Teil 1

„Der Zeitraum meiner Zukunft ist die Dauer eines Klicks. Schon ist es um sie geschehen“, lautete eine Phrase in einem früheren Essay. In diesem Essay ging es mir um das Ende jener Sondierungsgespräche, die hinter verschlossenen Türen abgehalten wurden, fern von jedem weltlichen Verständnis, so als hätte sich nichts geändert. Die in diesem politischen Stil im Geheimen durchgeführten Gespräche ignorieren die laut artikulierten, tief liegenden Bedürfnisse eines Volkes, das angetrieben durch Politikverdrossenheit und Vertrauensverlust laut und deutlich nach Veränderung, Partizipation und Gerechtigkeit verlangt.

Diese Geschwindigkeit steht zur Debatte. Und meine Zukunft in Raum, Zeit und einer sich auflösenden Gesellschaft.

Der Rahmen, innerhalb dessen sich mein bisheriges Leben abspielte, wurde durch demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker gestaltet und festgelegt, die genügend Zeit vor sich wussten. Zeit, die ihnen zur Gestaltung und Festlegung dieses Rahmens durch den Lauf einer Legislaturperiode gegeben war. Diese „gemütlichen“ Zeiten sind vorbei. Angst und Zorn beschattet das Land. Überfremdung, Spaltung, Kapitalisierung, Globalisierung, Antisemitismus. Wer AfD wählt, wählt nicht, sondern der demonstriert – wütend. Er demonstriert gegen das politische Bisher und schreit es dorthin, wo es bereits ist: in die Vergangenheit. Überhaupt jeder, der wählt, wählt in Wahrheit nicht mehr, denn er gibt seine Stimme für ein Morgen, das bereits ein Gestern ist. Und das Gestern lässt sich nicht zurückholen in die Zukunft. Das ist der innere Aspekt.

In den USA entbrennt 2016 ein Kampf gegen die politische Elite, vor allem angeheizt und befördert durch die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit in den inneren Staaten (Rust-Belt), nicht nur durch einen Donald Trump, der mitnichten damit gerechnet hatte, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Die Tatsache ist, dass Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde und das geschah, ohne jeden Nachweis einer herausragenden politischen Kompetenz oder eines vorbildlichen politischen Werdegangs. Trump zählt durch diverse Medienauftritte zu den bekanntesten Personen der USA, er ist vermögend und gibt vor, entschiedener Gegner des politischen Establishments zu sein. Das tut er oft polternd, aufbrausend und in einfacher Sprache.

Trumps politischer Stil, sofern man überhaupt von einem Stil reden mag, lässt sich einreihen in eine neue politische Form, durch die in den letzten Jahren populistisch agierende Figuren deutlich an Macht hinzugewinnen konnten und damit beschäftigt sind, diese „alten“ liberal-demokratischen Systeme, derer sie sich nun selbst bedienen, zu beschädigen. Sie wollen das eine politische Establishment gegen das nächste austauschen. Sie wollen alle eine Veränderung. Auch sie wollen zurück in die Zukunft. Das ist der innere Aspekt der Vereinigten Staaten von Amerika, und er deckt sich mit all jenen inneren Aspekten der wohlhabenden westlichen Völker, die um ihre Pfründe fürchten. Denn es steht wahrlich zu befürchten, dass die jahrelange Ausbeutung der dritten und vierten Länder in nicht allzu ferner Zeit ihren Tribut fordern wird.

Völkerwanderungen. Sie kommen mit Handys, die ihnen die westliche Welt mit all ihrem Reichtum und Überfluss vor Augen führen, und sie kommen mit dem Ziel zu überleben. Sie wissen, was sie erwartet und sie wissen, dass sie aus dem Nichts kommen. Sie haben nur eine Chance: die Zukunft. Was in der betriebswirtschaftlichen Nomenklatur als Heuschrecke bezeichnet wird, inkarniert sich nun als vernichtende Bedrohung der Zivilbevölkerung der reichen Länder. Völkerwanderungen und Globales Wissen. Sie sind der äußere Aspekt.

Jüngst bemerkte ich eine Stimmung, die mich an den Kampf der Werktätigen um die 42-Stunden-Woche in den frühen 1970ern erinnerte. Solch ein hitziger Kampf war damals ein bedeutendes Rollenspiel. Er fand unter dem starken Einfluss der Gewerkschaften statt, mit unscharfem Blick zwar, denn es gab noch keine Informationsmöglichkeit jenseits von Bibliothek, Tagesblatt und Tagesschau, aber mit Trillerpfeife und Megaphon bewaffnet wurde ein Kampf um bessere, gerechtere Verhältnisse gekämpft. Es war ein Kampf einerseits getragen von konsolidierter, persönlicher Wut der Arbeiter gegen die ihnen ungerecht erscheinende Verteilung der Unternehmensgewinne (Unternehmer und Angestellte) und andererseits war er von einem Hass untermauert, gegen diese ungeheuer arrogante Herrlichkeit, in der „die Unternehmer“ die Ausbeutung der Arbeitskräfte vorantrieben und weiterhin ihren Unternehmensgewinn zu maximieren beabsichtigten.

Eine ähnliche Stimmung vernahm ich in einer spontanen Diskussion wieder einmal in meinem Gemüseladen um die Ecke. Es ging um den Kampf gegen die Mächte. Kampf gegen hereinströmende Nachrichten. Lügenpresse, die gesamte Medienmacht stand im Fokus der Wut, die sich in diesem Laden Luft machte. Ich floh vor diesem „kleinen“ Terror. Angesichts der wütenden Übermacht hatte ich Angst bekommen. Ich werde diesen Laden jedoch nicht meiden und beim nächsten Einkauf, wenn die Kräfte günstiger verteilt sind, das Thema wieder aufgreifen. Das sind die kleinen Kriege, die wir führen müssen, wenn wir nicht wollen, dass unser Land zu einem Herrscherland wird.

„Individuelle Lebensbedingungen“ gab es in den 1970ern noch nicht. Und das hängt mit den Lebensentwürfen der Menschen zusammen, die sich je nach Zugehörigkeit zu einer Klasse/Schicht sehr ähnelten, ein „Wir-Gefühl“ ermöglichten und somit einen festen Identifikationshorizont boten. Da konnte einer noch sagen: „Ich bin stolzer Mitarbeiter bei Siemens“, wenn er gefragt wurde, was er ist. Und er konnte davon ausgehen, dass er das auch noch in 30 Jahren ist. Mein Vater hatte zeitlebens 3 Arbeitsplätze in drei unterschiedlichen Firmen, über die er heute noch im Alter von 86 Jahren mit Stolz geschwängerter Brust Geschichten erzählt, meist Geschichten von Solidarität, Kameradschaft und gemeinsam erzielten Erfolgen. Ich selbst hatte mehr als 20 Arbeitsplätze und kein einziger war unter ihnen, in dem ich mich hätte sicher fühlen können.

Derart verlässliche Perspektiven und Angehörigkeitsgefühle sind also Geschichte.

Doch was sind im 21. Jahrhundert „individuelle Lebensbedingungen“?

Soziologische Begriffe, die individuelle Lebensbedingungen beschreiben wollen, funktionieren selten, deshalb gibt es so viele. Glaubt man dennoch, treffliche gefunden zu haben, verlieren sie sich in Erklärung suchender Verallgemeinerung: die Verrohung der Sitten, die Verarmung der Sprache, der Identifikationsverlust, die Individualisierung schlechthin. Was eigentlich in allen „Einzelfällen“ vorfällt ist zwar von soziologischem Interesse, kann aber mit herkömmlichen billigen Methoden empirisch nicht erfasst werden. Ich jedenfalls wurde noch nie persönlich befragt.

Anything Goes als ein Phänomen der Postmoderne, Patchwork Family, Multikulti und Social Media haben dafür gesorgt, dass typische Merkmale, an denen man eine individuelle Lebensführung festmachen könnte, schlicht verschwunden sind. Sie wurden auch in der digitalen Welt anonymisiert. Was heute im Netz als Individualität erscheint sind bestenfalls gezielt eingepflegte Outfits. Sozusagen eine Vermarktung von profilierten, idealisierten Avataren, die Individuen vertreten und die von möglichst vielen Usern gemocht (geliked) werden wollen. Das Individuum selbst bleibt so erst mal auf sich allein gestellt. Es ist nicht individuell, weil es alle gleichermaßen betrifft. Es ist mit sich allein. Und es geriete in Erklärungsnot, fragte man es, wer es sei oder was es eigentlich wolle. Und weil dies noch nicht genug der in die Isolation führenden Grausamkeit ist, denn die Menschen waren einmal soziale Wesen, entfremdet es sich nun auch noch von sich selbst.
Das mag einer verstehen!

Weitere populäre Begriffe, eröffnen neue Denkfelder, innerhalb derer versucht wird, die psychische Isolation des Individuums zu begreifen: Individualisierung (auch als operatives Geschäftsmodell), Social Network, Narzissmus, Digitalisierung (der „Gläserne Mensch“ wurde bereits 1982 anlässlich einer Volkszählung gefürchtet, heute entscheidet sich der junge Mensch unreflektiert locker für diese Daseinsform), Wissensdatenbanken, Globalisierung, Big Data, Neonationalismus oder Flüchtlingskrise, (auch isolierende) Vereinsamung, (auch sprachliche) Verarmung usw. usf.. Diese eben genannten Begriffe lassen weitere Begriffe anspringen, jeder für sich genommen, löst subsidiär riesige Kaskaden weiterer Spezialbegriffe aus, tiefergreifende, fachspezifische, deshalb weniger bekannte, psychologische, psychosoziale, soziokulturelle und psychosomatische. Nun meist als Deduktionen, als Faktoren, die die Psychoanalyse eines ganzen Volkes ermöglichen sollen. So schlimm steht es um unser Volk. So massiv scheint die Bedrohung, dass Studie um Studie befördert wird. Das ist der psychologische Aspekt.
Doch stimmt dieser Blick?

Die westliche Welt versucht sich summa summarum mit derlei unerquicklichen Begriffszuweisungen in kläglicher Aufklärung. Sie fungieren als Beschwichtigungen und sollen Anreiz für mögliche Erklärungen bieten. Eine Erklärung für die umfassende Aussichtslosigkeit, wie sie in den Sozialen Medien zum Ausdruck kommt, und eines daraus ableitbaren, wuchernden, mittlerweile jedoch in die Jahre gekommenen allgemeinen Verdrusses. Zunehmende Entfremdung, die nun anscheinend mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger an sich erfahren, würden die Basis der Demokratie aus ihren Angeln heben. Ursachen ließen sich vor allem in der Mittelschicht finden. Heißt es. Eine Schicht, in der eine Angst zum Ausdruck kommt und in der etwas Wichtiges verloren zu gehen droht. Eine Angst, die bislang so nicht vorkam. Und gerade weil diese Angst so neu und fremd erscheint und bei jedem Einzelnen zwar irgendwie anders, aber eben nicht individuell vorkommt, wirkt jeder Versuch einer Erklärung oder gar einer Lösung erbärmlich – mich, den einzelnen Menschen also nicht betreffend und nichtssagend.

In ihrer politischen Art sprachloser Hilflosigkeit, die sich immer dann einstellt, wenn überraschend Auftauchendes zu bewältigen ist, versuchen nun Gehörfindende (meist politisch Machthabende, aber auch und vielleicht gerade die Medien) vernünftig scheinende Erklärungen anzubieten. Plausibilitäten, die für mein Dafürhalten allerdings nur dem Anschein nach Beruhigung versprechen. Sie versuchen, logisch klingende Argumente als Gründe für das Aufkommen jener Ängste zu beweisen. Schuld und Ursache enttäuschen sich aber schnell selbst als billige Beschwichtigungen und liegen meist außerhalb der Welt des Symptomträgers und nur selten bei ihm selbst. Dieser gute Wille treibt hingegen Blüten, die mehr Gift als Düfte tragen und das Dilemma nur verstärken. Das ist aus meiner Sicht der Grund, warum die merkelianische Art[1] der politischen Machtausübung so erfolgreich war und noch immer ist und warum die separatistischen zunächst populistischen dann parteipolitischen Versuche nach und nach scheitern werden.

Hervorgerufen durch die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen steige die Sorge um den Arbeitsplatz, ja, um den Erhalt unseres Wohlstands und das, obwohl die Wirtschaft brummt wie nie zuvor. Eine andere Erklärungsformel liefert die Annahme, dass Politischer Wettstreit, der sich an sich um sachdienliche Auseinandersetzung zu den anstehenden Reformierungsaufgaben bemühen sollte, zu einem von PR-Experten gesteuerten Medienspektakel verkommt, an dem die Zuschauer allenfalls noch als Claqueure partizipieren. Solche Veranstaltungen sind billig, aber sie nützen nichts.

Die protektionistischen Entwicklungen in den europäischen Ländern sind nur als Reaktion auf eine wachsende Unsicherheit begreifbar. Sie haben zweifelsfrei selbst einen inneren wie auch äußeren bedrohlichen Charakterzug an sich und bestätigen bzw. legitimieren vorhandene Ängste und verstärken sie. Indem sie sozusagen eine hypnotische Suggestion erzeugen, die eine dringende Notwendigkeit einredet, diese verstärkten Bedrohungen abwehren zu müssen. Sei es die Angst vor Überfremdung, sei es die Phobie eines nicht enden wollenden Flüchtlingsstromes, sei es ein „neuer Vaterlandsgedanke“ den der „kleine“ Terrorismus in den Städten der „neuen Heimat“ hervorruft.

Jenseits aller politischen Bemühungen in den reichen Ländern, die aufgeblähten Phantasiefeinde zu bekämpfen, findet gerade eine grundlegende, in Gänze unpolitische, globalgesellschaftliche, soziokulturelle Veränderung der gesamten Menschheit statt. Sich eine politische Vermeidungs- oder Lenkungsstrategie einzelner Mächte vorzustellen, die irgendeinen Einfluss auf diese globalen Umwälzungen nehmen könnten, wäre zwar irgendwie wünschenswert aber nüchtern betrachtet völlig utopisch. Das ist natürlich zunächst einmal keine neue Erkenntnis. Doch sie erfordert m.E. eine viel weiter gefasste Betrachtungsweise als eben nur die liberale macht- und sozialpolitische. Beziehungsweise rückt diese Revolution 4.0 den politischen Betrieb an sich, ich meine damit alle politischen Bemühungen aller Länder zusammengenommen, in einen zweiten Rang. Der politische Diskurs mag zwar nach wie vor als Werkzeug geeignet sein, anstehende lokalpolitische Veränderungen zu diskutieren, zu bewerben und zu bestimmen. Doch der politische Diskurs ist nicht das geeignete Instrument, eine vergesellschaftete Angst, die sich gegen einen unbekannten Feind richtet, zu behandeln. Er ist auch nicht dafür geeignet, den auf uns zu rollenden Tsunami, den die globalen Umwälzungen in technischer Hinsicht auslösen, zu begreifen. Dazu ist er zu träge und zu ungelenk.

Es steht meines Erachtens also außer Frage, dass eine den dramatischen Entwicklungen gerecht werdende Veränderung der gegenwärtigen politischen Systeme aller Länder, nur eine der Dramatik aller globalen Veränderungen angemessene, revolutionäre sein kann. Mit Reformen der einzelnen Staaten wird eine globale Lösung nicht zu schaffen sein. Auch eine Europäische Lösung wird nicht ausreichen. Es muss ein System geschaffen werden, welches alle Belange aller Länder homogenisiert und demokratisiert. Wir haben die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten; eine politische Weltregierung bleibt angesichts der rechtlichen und kulturellen Differenzen zunächst noch Utopie. Jedoch halte ich eine Teilhabe aller Menschen an allen sie angehenden Entwicklungen für realisierbar. Angesichts der digitalen Revolution und der in stetigem Vollzug befindlichen Industrierevolution 4.0 ist es möglich, aufklärende Informationen, Darstellung von Sachverhalten und Entscheidungsfindungen zu lancieren und umzusetzen, usw.

Um allerdings einen neuen weltpolitischen Denkansatz zur Revolutionierung gegenwärtiger Demokratien entwickeln zu können, versuche ich zunächst einige grundsätzlichen Überlegungen zum Dasein des Menschen aufzuführen, die uns alle gleichermaßen vereinen und die ich als historische Voraussetzungen meiner ganz persönlichen Begabung zur Selbsterkenntnis verstehe und mit deren Hilfe ich mir den im Allgemeinen und insbesondere bei mir selbst spürbaren Wunsch nach Partizipation am Gemeinwesen zu erklären erhoffe.

Mit dem Heraustritt aus dem Urwald – die Leserin und der Leser mögen mir bitte in diese ausgedehnte, abenteuerlich anmutende Exkursion in das Reich der Natur vor mindestens 70.000 Jahren (die Zeit war damals womöglich noch integraler Bestandteil des Raumes) mit einer besonderen Wachheit und einem hohen Grad unserer Nachempfindungsfähigkeit folgen, – mit dem Heraustritt aus dem Urwald also in die weite, offene Savanne verfügen wir nun über die Aussicht in einen breiten Horizont, den wir zuvor nicht kannten. (Bei Heidegger heißt es: der Mensch wurde in die Lichtung des Seins geworfen). Und dieser weite Blick verschafft uns Sicherheit vor Feinden und Zuversicht auf Beute, die wir nun frühzeitig erkennen können. Ab dieser prägenden Entwicklung können wir es uns erlauben, sesshaft zu werden und unseren Nachwuchs viel früher auf die Welt zu bringen. Ohne Fell und Verstand, unfertig sozusagen. Im Gegensatz zu anderen Säugern, zum Beispiel dem Pferd, dessen Nachwuchs stante pede auf allen Vieren dasteht mit Haut und Haaren ausgestattet und dem es nur noch beizubringen scheint, welches Gras es nicht zu fressen hat und welches besonders bekömmlich ist. In diesem „nackten“ Menschwerdungsprozess, der sich im Verlaufe von etlichen Tausend Jahren vollzog, findet sich wohl ein Anfang, den Peter Sloterdijk „unsere Verwöhnung“ nennt. Er sagt in einem Gespräch mit Thomas Macho: „Die spezielle menschliche Verwöhnung kommt zustande durch die Verschmelzung eines Situationsvorteils, der bei dem Savannenläufer frühmenschlichen Typs auftritt, mit einem animalischen, schon bei den Hominiden voll ausgeprägten Wärmevorteil, der in den Mutter-Kind-Beziehungen der Großaffen manifestiert wird. Die Formel heißt: Savannen-Sicherheitseffekt plus hominide Wärmestube. […] Savannenaffen leben in einer Welt mit einem weiten Horizont – sehr im Unterschied zu der Welt der Baumwipfel, die eine Blätterhöhlenwelt bildet. Man kann das gar nie genug betonen. Vor dem Menschen kommen die Affen, die einen Horizont haben. Aus dieser Lage bildet sich ein kognitives Muster, das bei uns zur Apriori-Ausstattung gehört. Ich denke an ein angeborenes Aufmerksamkeitsschema, das so etwas wie die transzendentale Einheit der Apperzeption vorwegnimmt. Kantisch gesprochen, es gibt bei Menschen eine Alarmbereitschaft, die alle meine Vorstellungen begleiten können muss. Zunächst darf man feststellen: Der Savannenaffe ist zunächst und meist relativ entlastet. Er sieht eventuelle Gefahren von weit herkommen, daher kann er viel mehr entspannen als ein Baumaffe, der die Gefahr von nicht so weit herkommen sieht. Er besitzt also dank seiner Weitsichtigkeit eine Sicherheitsreserve, die in seinen gesamten Habitus einfließt. Gelassenheit ist eine biologische Savannenerrungenschaft. Wie manche anderen Savannenbewohner ist der Sapiens ein alarmbezogenes Dösewesen, er hängt von Natur aus herum und macht meistens gar nichts. Man denkt unwillkürlich an die männlichen Löwen, die immerhin 23 Stunden am Tag pennen. Solche Formen von Faulheit und Entspanntheit sind savannentypisch. Die Sicherheitsreserve durch den weiten Blick macht’s möglich. Jetzt aber kommen die Zeit und das Ereignis ins Spiel. Der Sapiens ist nämlich nicht nur ein alarmierbares Dösewesen, sondern auch ein appetitgesteuertes Neugierwesen. Stellen wir uns vor, wie die Grundsituation des Lebens in einem weiten Horizont modifiziert wird: Was muss geschehen, dass bei einem verwöhnten Affen der Aufmerksamkeitstonus steigt? Offenbar besteht der Auslösereiz darin, dass am Horizont ein Stressor auftaucht. Ob Aggressor oder Beutetier – die Unterbrechung der Situation muss sich irgendwie zeigen – und tatsächlich zeigt sie sich am Horizont. Dann hebt der Affe den Kopf und ist mit einem Mal mit den Blicken ganz „dort“. Den Kopf heben – das ist, nebenbei gesagt, eine Metapher, die noch Heidegger benutzt, um die Art und Weise zu bezeichnen, wie der Mensch in der Lichtung steht. Das Novum tritt auf in Form einer Unterbrechung der Horizont-Linie. Das Ereignis, mit dem die Zeit gesetzt wird, ist im Raum eingetragen als Störung am Horizont.“ (Der Imperfekte Mensch, S. 384ff)

Es ist außergewöhnlich für mich, dass ich so ausführlich zitiere, aber in diesem Fall halte ich es deshalb für notwendig, weil in den Ausführungen von Sloterdijk bedeutende Aspekte in einem ganz bestimmten Stimmungsfeld genannt werden, die in einem fundamentalen Unterschied zu allen bisherigen Deutungsversuchen stehen, die die Haltung und die Bedrohlichkeit, oft auch die Überheblichkeit und den Widerwillen, in denen Populistinnen und Populisten auftreten, erklären wollen.

Hier wird nicht die Frage gestellt, ob Jesus ein Affe war, oder ob Gott dem Affen das Menschsein eingehaucht hat. Hier wird auch nicht gefragt, ob dies der Anfang des Aufrechten Ganges war, oder just der Anfang der Menschheit. Hier wird eine einfache Geschichte erzählt, die uns zeigt, wie es dem Affen erging als er die Savanne betrat, ein Augenblick in der Menschheitsgeschichte, der an Bedeutung nicht zu übertreffen ist: ein erweitertes Blickfeld, ein Horizont und schließlich Verwöhnung.

Wenn Sie ehrlich sind, spüren Sie den gebückten Gang dieses Affen noch immer in dieser Erinnerung. Früher hangelten Sie sich mit Gekreisch von Ast zu Ast, suchten unten am Boden nach Nahrung, trugen ihren Nachwuchs ständig mit sich herum, und mussten im Dickicht stets gewappnet sein, selbst zur Beute zu werden. Und heute spähen Sie noch immer mit glänzenden Augen in die Weite der Savanne, gerne bei untergehender Sonne, in jene Weite des Horizonts, in ihrem Wesen noch immer neugierig, verwöhnen sich kulinarisch, geben ihren Kindern einen Gute-Nacht-Kuss und genießen des Nachts die Sicherheit ihrer Behausung.

Und, mögen sie fragen, was hat das alles mit unserer gegenwärtigen Demokratie zu tun?

„Das Novum tritt auf in Form einer Unterbrechung am Horizont.“

Und dieser Horizont misst 360° (dann hebt der Affe den Kopf und ist mit einem Mal mit den Blicken ganz „dort“). Auf allen Seiten sind wir nun, jeder für sich, in einem Alarmzustand.

Keine Beute in Sicht.

Wir haben Angst.

[1] „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, – ist das Maximum dessen, was die Sprechende von sich preisgibt. Ganz nach Macciavelli: Regiere und lächle dabei.

*

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